Geschrieben von Boris Janssen am 16. März 2017
Ein inspyrierender Abend
Die Stillen Hunde zeigen auch mit der Almen-Soap Heidi ihre Qualitäten
Heidi – die meisten haben bei diesem Namen sicher das Bild des Zeichentrick-Mädchens aus Japan im Kopf, das mit den großen Augen und den übertrieben rosa-roten Wangen. Und dann spukt es da unweigerlich herum, das trommelfellzerfetzende und Hirnwindungen zermürbende „Deine Welt sind die Berge – hollahadihi“. Gegen diese, in aller Regel in jüngsten Jahren eingefangenen chronischen Beschwerden gibt es nun eine wirksame Therapie: die aktuelle szenische Lesung der Stillen Hunde aus Göttingen (alias Christoph Huber und Stefan Dehler), zuletzt präsentiert am Freitag (10.03.2017) im Bad Lauterberger Haus des Gastes – eben „Heidi“ von Johanna Spyri.
Schon eine Anwendung genügt, um die unangenehmen Assoziationen wohl für immer auszutauschen. Die Gitti-und-Erika-Marter ist ersetzt durch zartes Zicklein-Gemecker und sonores, nennen wir es mal Alphornblasen. Der neuen Bilder sind da gleich ganz viele, denn statt allesamt weichzeichnergespülten Trickfiguren zeichnen die Stillen Hunde die unterschiedlichen Charaktere gewohnt liebevoll – vom lebenslustig auf der Wiese dösenden Geißenpeter, über den beherzt schlittenfahrenden Alpöhi bis hin zur Fräulein Rottenmeier, die sich beim verstörenden Versuch, aus ihrem selbstangelegten konservativen Korsett auszubrechen, gar ungeschickt-lasziv und völlig sinnfrei vor ihrem Dienstherren herumräkelt. Obwohl, ob dieses Bild jetzt besser ist? Man weiß es nicht.
Bergpanorama auf 20 Quadratmetern
Die, wenn man ehrlich ist, arg soap-verdächtige Story ist sattsam bekannt. So bezieht die Lesung wie so oft bei den Stillen Hunden ihren Reiz daraus, was Huber und Dehler wohl aus dem Stoff machen und mit welchen Einfällen sie das Publikum dieses Mal überraschen. Bei Heidi also sind es zwei schiefe Ebenen, die ein Bergpanorama auf die Bühne zaubern – erstaunlich, wie viele Höhenmeter sich bei beständigen Wandern auf nicht einmal 20 Quadratmetern Grundfläche überwinden lassen. Plüschig-flauschige Handschuhe werden als Handpuppen zur Geißenherde. Und wirft man auf die Kunstrasen-Almen ein paar weiße Kissen, dann ist die Landschaft ruckzuck tiefverschneit. Die Stillen Hunde beherrschen es einfach, beim Publikum die Phantasie anzuschmeißen.
Ungewöhnlich für die Beiden: In der Pause bauen sie tatsächlich das Bühnenbild ein wenig um, wird doch die Handlung von der Schweiz nach Frankfurt verlegt. Ey Alder, die Hessenmetropole beherbergt schon zu Heidis Zeit bemerkenswert hippe Gestalten. Vor allem Oma Sesemann kommt recht knackig daher.
Schweiz und Hessen – diese Kombination ist für die Stillen Hunde auch gleich die perfekte Steilvorlage, das beliebte Spiel mit den Meta-Ebenen zu eröffnen, auf denen sie sich gerne mal als Schauspielkollegen piesacken. Christoph Huber wirbt dabei vehement für seine Schweizer Heimat – und übrigens: Spyri spricht sich „Spiiieeri“, nicht „Spüri“. Stefan Dehler, zwar in Stuttgart geboren, aber qua Lebenslauf mindestens stark in Hessen sozialisiert, bricht eine große Lanze für den Äppelwoi – er bekommt das Zeug sogar ohne Gesichtszerrung herunter.
Schuttcontainer als Requisite
Solcherlei Insider-Gags können sie sich freilich nur erlauben, weil sie sich inzwischen einen hochverdienten Stand bei Kennern erspielt haben. Unter ihren vielen grandiosen Programmen bisher ist „Heidi“ vielleicht nicht die Lesung, die am stärksten beeindruckt, aber die Stillen Hunde bieten auch mit ihr wieder einen gewohnt unterhaltsamen, „inspyrierenden“ Abend. Man gut also, dass der Kulturkreis Bad Lauterberg zum zweiten Mal als Veranstalter eingesprungen ist – statt der momentan nicht vorhandenen Stadtbücherei. Auch der traditionelle großzügige Pausenimbiss fehlte nicht. Und wenngleich nur noch ein ungünstiger Termin mit mehreren Konkurrenzveranstaltungen möglich war: Mit rund 70 Zuschauerinnen und Zuschauern war Kulturkreis-Vorsitzende Cornelia Bär am Ende vollends zufrieden.
Bleibt zu hoffen, dass es nächstes Mal endlich wieder einen gescheiten Veranstaltungsraum gibt. Das notdürftig hergerichtete Foyer im Haus des Gastes bot weder Ambiente noch gemütliche Plätze. Einen Vorteil hatte es aber: Die Stillen Hunde konnten ihr Improvisationstalent ausleben und vereinnahmten den vor dem Fenster stehenden Schuttcontainer gleich mal als Teil des Bühnenbildes. Sie können’s halt.